30.03.2023

Klimakatastrophenleugner aus dem Chemiebuch - Leserbrief

Erneut gibt sich ein Leserbriefschreiber als wissenschaftsferner Inhaber einer Dunning-Kruger-Lizenz zu erkennen: die Gasgleichung von Boyle-Mariotte muss dafür herhalten, dass es keine Klimakatastrophe gibt.

[veröffentlicht am 30.03.2023, leider alle Kurz-URLs entfernt]

Hr. K. hat nun also auch eine eigene Meinung zur Klimakatastrophe. Nur leider passt seine Meinung nicht zum aktuellen Stand der Klimaforschung.

Alle Wissenschaftler weltweit sind sich einig, auch der aktuelle Bericht des IPCC ist eine deutliche Warnung, dass es massiver weltweiter Änderungen bedarf, um überhaupt noch eine geringe Chance zu haben, unter dem Pariser Klimaziel von 1,5 Grad Celsius zu bleiben. Wir erinnern uns: das Pariser Abkommen ist an sich schon ein trauriger Kompromiss, der lobbygesteuert weit hinter den notwendigen Aktionen zurückbleibt. Und nicht einmal dieser Kompromiss, der in Deutschland Gesetzeskraft hat, wird umgesetzt. Insbesondere Hr. Wissing glänzt durch Blockade und der Forderung nach “Technologieoffenheit”.

Die wärmsten 10 Jahre in der Geschichte der Wetteraufzeichnung waren die letzten 10. Deutschland erlebt seit Jahren Dürren im Sommer und zu wenig Niederschlag im Winter. Der Rhein droht im Sommer erneut nahezu unbenutzbar für die Schifffahrt zu werden. Der Po war so ausgetrocknet, dass Meerwasser kilometerweit zurück strömt und dadurch Ackerflächen versalzen.

Die Rückversicherer haben für 2022 weltweit über 275 Milliarden Euro für Schäden durch Naturkatastrophen ausgeben müssen.

Wie blind muss man sein, um diese Warnzeichen zu ignorieren?

Für das Science-Blog der "Spektrum der Wissenschaft" hat Professor Stefan Rahmstorf einmal mehr die Fakten zusammengestellt. Er ist Klimatologe, Professor für Physik der Ozeane und Abteilungsleiter am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.

Die Ölfirmen wussten schon seit den Sechziger Jahren über den Zusammenhang zwischen CO2 und Erderwärmung, wie "The Guardian" berichtet.

Der Spiegel bemerkte dazu schon vor mehr als zehn Jahren: "'Wir haben ein Handlungsproblem, kein Erkenntnisproblem". Das Handlungsproblem rührt daher, dass zuviele Lobbyisten unterwegs sind und in die falsche Richtung Einfluss auf die Politik nehmen. Deutschland fällt leider in Brüssel seit Jahrzehnten immer wieder unangenehm auf, wenn es um die Verwässerung oder Verzögerung von Normen geht, die angeblich der Autoindustrie schaden.

All dies, von 13.000 Wissenschaftlern weltweit belegt, kann Hr. K. aus der Wetterau, der noch nie durch wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema Meteorologie oder Klimaforschung aufgefallen ist, mit der Gasgleichung von Boyle-Mariotte aus einem Chemiebuch der neunten Klasse widerlegen?

Kürzlich wurde eine interessante Zahl bekannt: die Summe an Geld, die von bekannten Lobbyorganisationen allein in der Zeit von 2003 bis 2011 bezahlt wurde, um Studien zu finanzieren, die den Klimawandel leugnen. Diese Summe beträgt unglaubliche 900 Millionen Dollar, also mehr als 600 Millionen Euro. Diese Gelder wurden ausgegeben, damit Firmen ihr umweltschädliches Geschäftsmodell weiter betreiben können.

Die Verharmlosung mit den “kleinen” Zahlen, die Augenwischerei mit Prozentangaben ist ein üblicher Trick derjenigen, die das “weiter so” propagieren, weil es unbequem wäre, der Realität ins Auge zu blicken, oder ihr Geschäftsmodell bedroht.

"Nur in drei Jahren seit 1880 waren die Temperaturen auf der Erde noch höher, als 2018. Das haben die NASA und die US-Ozean- und Atmosphärenbehörde in unabhängigen Analysen ermittelt. NASA und NOAA warnen deswegen, die Erderwärmung halte unvermindert an. (...) Die jüngsten fünf Jahre seien zusammen auch die wärmsten fünf seit Beginn der weltweiten Messungen. Seit 1880 sei die Durchschnittstemperatur auf der Erdoberfläche um 1 Grad Celsius angestiegen. Schuld sei der vom Menschen verursachte Ausstoß von Treibhausgasen." (Zitiert aus https://heise.de/-4301316)

Erneut mein Lesetipp: 10 Fakten über den Klimawandel bei ZEIT Online.

Es gab und gibt wissenschaftliche Studien, die versucht haben, den Klimawandel zu widerlegen. Diese Studien beschränken sich auf winzige Aspekte des Themas oder wurden wenig später von der Fachwelt sämtlich zerlegt und widerlegt. Alle diese Versuche wiesen schwere methodische Mängel auf und dienen nur dazu, die Diskussion am Kochen zu halten.

28.03.2023

Serienkritik: Die Bande aus der Baker Street ("The Irregulars")

Kürzlich bin ich durch den Vorschlag von Netflix auf die Serie "The Irregulars" gestoßen, und trotz der gängigen Empfehlung, keine Serie zu schauen, die nur eine Staffel hat, oder die abgesetzt wurde, hab ich sie mir angeschaut.

Da ich Sherlock Holmes sehr gern mag (sowohl die Geschichten als auch die Verfilmungen, z.B. die BBC-Serie mit Benedict Cumberbatch und die beiden Filme mit Robert Downey Jr.), habe ich mir die übersichtlichen 8 Folgen gegönnt.

Die Geschichte ist gut erzählt. Es gibt einen Hintergrund, der sich über alle Folgen erstreckt und sich nach und nach dem Zuschauer erschließt. Die Charaktere werden von den Schauspielern gut gespielt. Die "Handlung der Woche" bzw. Episode passt sich gut in den Ablauf ein, und im Lauf der Handlung erfährt man, welche Ursache allen Vorfällen gemeinsam ist. Es gibt einige überraschende Enthüllungen und Wendungen. Die Bösen sind nicht so böse, und die Guten sind eigentlich auch nicht gut, all das ist nachvollziehbar und schön erzählt. Ich konnte nur mit dem royalen "Flüchtling" nicht so warm werden, der sich aus dem Palast schleicht, um Abenteuer zu erleben und sich zufällig mit den künftigen Irregulars anfreundet. Das ergibt natürlich im Lauf der Handlung die üblichen Verstrickungen, Vorwürfe der Lüge usw. Das ist erwartbar langweilig, der Ärger darüber hält sich aber in Grenzen, weil es nicht allzu breit ausgewalzt wird.

Trotz alledem bleibt am Ende ein diffuses Unbehagen: es ist eine gute gemachte Mystery-Geschichte mit einem Versatz von Ideen aus diversen Mythologien, aber der Ansatz, es eine Sherlock Holmes-Geschichte zu nennen, ist verkehrt. Die Handlung würde ohne die Nennung von Holmes und Watson genauso funktionieren. Die Figur Sherlock ist in der Handlung vollkommen bedeutungslos. Ohne groß zu spoilern: sowohl Holmes als auch Watson sind jeweils Teil der Ursache für alles, was vorgefallen ist. Aber die Figur Sherlock in der Großartigkeit und Zerrissenheit von Sir Arthur Conan Doyle wird nicht verwendet. Auch die Reduktion der "Irregulars" von Holmes auf eine einzige kleine Gruppe von 5 Jugendlichen, fast schon Erwachsenen, gefiel mir überhaupt nicht. Die einzige Anspielung auf die Figur im Sinn von Doyle ist der Vorwurf, den Alice ihm macht, als sie ihn bezichtigt, seine brillianten Deduktionen nur für den Glanz der Bewunderung zu machen und somit seine persönliche Eitelkeit zu befriedigen. Das bleibt aber vollkommen ohne weitere Konsequenzen für den Rest der Handlung.

Von daher denke ich, dass die Verknüpfung der Geschichte mit Sherlock Holmes nur von der Berühmtheit des Londoner Detektivs profitieren will und den Charakteren der Serie damit eine Hintergrundgeschichte übergestülpt werden soll, denen die Figuren nicht gerecht werden können. Die klassische Figur Sherlock Holmes wird massiv dekonstruiert, als er während seiner kalten Entziehungskur Schlussfolgerungen zieht wie sein früheres Ego, aber jedes Mal daneben liegt. Das ist eine sehr kalte Dusche für den Zuschauer. Am Schluss, vor dem Showdown, hat er einen Moment der Klarheit, als er Alice gesteht, dass er als Vater versagt hat und sich vor seiner Depression in die Sucht geflüchtet hat.

Die "Irregulars" von Doyle sind gerade keine feste Gruppe, sondern die Bezeichnung für die zahllosen Straßenkinder, die Holmes regelmäßig für Informationen bezahlt, um über alle Londoner Geschehnisse im Untergrund auf dem Laufenden gehalten zu werden. In der Serie bildet Watson (nicht Holmes) erst diese "Irregulars" für konkrete Aufträge (und versucht sie relativ schnell darauf wieder los zu werden, als sie auch über ihn unbequeme Fragen stellen) und löst dadurch die weiteren Geschehnisse aus.

Das abrupte Ende nach der ersten Staffel lässt ein wenig Raum für Spekulationen. Es hätte eine Fortsetzung geben können, aber das Ende ist in sich schlüssig und steht ohne große Schmerzen für sich selbst.

Einen Spoiler mute ich dem Blogleser zu:

Als Holmes-Fan ist es natürlich eine Katastrophe, dass Holmes sich a) verliebt hat, b) ein Kind mit Alice hatte, und c) sich hinter Alice her ins "Purgatory" (Fegefeuer) stürzt. Wir wir alle wissen, ist die einzige große Liebe in Sherlocks Leben Irene Adler gewesen. Watsons Geständnis, dass er in der Vorgeschichte Sherlock statt Alice gerettet hat, weil er in Sherlock verliebt ist, löst dann auch keine große Verwunderung aus. Watson ließ sich von seiner Eitelkeit treiben, es dem großen Holmes gleich zu tun, um von ihm als gleichwertig anerkannt zu werden, weil "Holmes" eigentlich zwei Personen seien, die nur zusammen funktioniert hätten, um Fälle zu lösen. Genau wie Holmes wird die Doyle'sche Figur Watson dekonstruiert - bei Doyle ist er ein Bewunderer von Holmes' Intellekt und Chronist der gemeinsamen Abenteuer. Diese Figur ist in ihrer Rolle verankert und sich der Anerkennung durch Holmes sicher, muss sich also nicht künstlich hervortun.

Trotz aller Schwächen würde die ich Serie empfehlen. Gute Unterhaltung mit überschaubarem Zeitaufwand.

25.03.2023

Die Armutsgefährdung und ein Institut e.V. - Leserbrief

Ein Leserbrief kritisiert den Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und versucht, dies mit Argumenten aus einer "Unstatistik" des "RWI Essen" zu belegen. Ich war neugierig, was dieses "RWI Essen" eigentlich ist und habe mal nachgelesen, was tatsächlich in dieser "Unstatistik" steht (von März 2022). Spoiler: neoliberaler Quatsch mit dem Tenor, dass es bloss keine Steuererhöhungen für Reiche geben dürfe.

[veröffentlicht am 25.03.2023]

Tja, die “reine Mathematik” liegt dann doch nicht jedem, wie Hr. B. eindrücklich beweist mit seiner Behauptung, dass nach dem Zuzug von Bill Gates quasi die gesamte Wetterau unter die Definition von Armut fiele.

Das ist genau der Unterschied zwischen dem Durchschnitt und dem Median: es sind zwei vollkommen unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe, und der Median vermeidet exakt das, was Hr. B. hier behauptet.

Der Median ist schlicht die exakte Mitte einer Zahlenreihe (bzw. der Durchschnitt der beiden mittleren Werte). Diese Betrachtungsweise vermeidet genau die Verzerrung, die eine Durchschnittsberechnung hervorruft. Wenn nun ein Milliardär wie Bill Gates zuzieht, erhöht sich der Durchschnitt massiv, aber der Median verschiebt sich nur um eine Stelle, und die Nachbarschaft von einem mittleren Gehalt ist immer noch (vermutlich) ein mittleres Gehalt.

Ein Beispiel: in der Reihe ( 1 2 <3> 4 5) ist die markierte <3> der Median, die exakte Mitte. Der Durchschnitt ist zufällig ebenfalls 3, denn 15/5 ergibt 3. Wenn ich nun der Reihe das Einkommen des Milliardärs Bill Gates anhänge (der Einfachheit halber mit einer fiktiven Zahl), wäre die Reihe dann ( 1 2 <3 4> 5 1000 ). Der Durchschnitt ist 1015/6, also ungefähr 169. Der Median hingegen ändert sich kaum auf 3,5, den Mittelwert der beiden mittleren Werte (3+4)/2. Man sieht, dass der Median eine vernünftige Bewertung ermöglicht und “Ausreißer” keine große Rolle spielen.

Das von ihm zitierte “RWI Essen” ist kein wissenschaftliches Institut, wie der Name suggerieren will, sondern ein privat organisierter eingetragener Verein und hat daher vollkommen andere Ansprüche und Zielsetzungen als ein Institut einer Hochschule.

Der kritisierte Armutsbericht wird in der “Unstatistik” März 2022 angegriffen. Konsequent verwendet diese “Unstatistik” den Begriff “Durchschnitt”, um den Armutsbericht schlecht zu reden, und nur in einem Nebensatz wird zugegeben, dass der “Median” verwendet wird, aber nicht auf den gravierenden Unterschied der beiden Maßstäbe eingegangen. Insbesondere vermeidet das RWI die Aussage, dass die Armutsdefinition wissenschaftlich belegt ist und auf dem staatlichen Mikrozensus beruht.

Der Bericht behauptet, dass immer 20% der Kinder armutsgefährdet seien, und die korrekte Definition von “Armut” müsse man allein daran bemessen, ob einem Kind eine angemessene Teilhabe am Leben möglich sei. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: die Einkommen sind so schlecht, dass 60% des Median-Einkommens kaum ausreichen. Die Entscheidung, 60% des Medians zu verwenden, bemisst sich am Existenzminimum. Der Paritätische Wohlfahrtsverband begründet diese Entscheidung sehr gut, und das, was die Unstatistik kritisiert und alternativ vorschlägt, ist paradoxerweise nahezu wortwörtlich identisch.

Ein Zitat des Verbands: “(...) in unterschiedlich wohlhabenden Gesellschaften Armut sehr unterschiedlich aussehen kann und vor allem durch gesellschaftlichen Ausschluss, mangelnde Teilhabe und nicht erst durch Elend gekennzeichnet ist. (...) Armut ein dynamisches gesellschaftliches Phänomen ist. Mit zunehmendem Wohlstand einer Gesellschaft verändern sich Lebensweisen und es können neue Barrieren der Teilhabe entstehen, wenn dieser Wohlstand nicht alle relativ gleichmäßig erreicht. Mit diesem Armutsbegriff folgt der Paritätische wie auch das Statistische Bundesamt der in Wissenschaft und Politik etablierten Definition von Armut.”

Dem gegenüber ein Zitat des RWI: “Dieses Anbinden der Armutsquote an einen bestimmten Prozentsatz des Durchschnittseinkommens ist die Kardinalsünde der medialen Armutsberichterstattung. Sie ist wissenschaftlich völlig unhaltbar. (...) muss Armut, wenn man dieses Phänomen wirklich ernst nimmt, an den Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe anknüpfen.”

Ganz nebenbei wird am Schluss der Unstatistik die übliche neoliberale Position vertreten, dass es nicht helfe, den Reichen zu nehmen, um die Armut zu bekämpfen. Diese These läuft seit langem unter dem Modewort “trickle down” (sinnbildlich: Wohlstand sammelt sich “oben” und tröpfelt von dort bis ganz “unten”) und ist längst widerlegt.

Man fragt sich, welchen Hintergrund es hat, wenn Hr. B. nach einem Jahr einen Bericht ausgräbt und mit fragwürdiger Kritik anzugreifen versucht.

17.03.2023

Schulsystem und Bildung - Leserbrief

Die Glossen der WZ sind in letzter Zeit eine Aufforderung zum Kommentieren ... :-)

[veröffentlicht am 21.03.2023]

Fr. Warnecke wünscht sich in einer Glosse, dass Deutschland ein besseres Bildungssystem braucht.

Das könnte funktionieren, wenn die verantwortlichen Politiker anfangen, sich für die Realität in den Schulen zu interessieren und man vielleicht sogar die heilige Kuh des Bildungsföderalismus in bestimmten Bereichen schlachten kann.

Hr. Lorz erzählt seit Jahren, dass die Versorgung der Schulen mit Lehrern mit 105% über dem “Soll” liegt.

Er vergisst dabei nur einige Details, die diese 105% dann gleich wieder relativieren:

  • wenn eine Lehrkraft durch Elternzeit langfristig ausfällt, wird sie trotzdem zu den 105% gezählt;
  • in der Oberstufe gibt es prinzipiell keinen Vertretungsunterricht, nur “eigenverantwortliches Arbeiten”;
  • eine Vertretungskraft kann nur neu eingestellt werden, wenn der Ausfall mehr als 6 Wochen beträgt;
  • die Krankheitsquote der hessischen Lehrer liegt deutlich darüber;
  • gerade jetzt fehlen bis zu 20% der Lehrer wegen der heftigen Corona-Welle.

Hinzu kommt, dass das Kultusministerium über den tatsächlichen Ausfall gar nicht Buch führt (oder führen will?). Wenn man als Elternteil nachfragt, können weder das Schulamt als untere Behörde noch das Ministerium Auskunft geben, wieviele Stunden konkret ausfallen.

Zwar gibt es seit November 2022 das FLIS-System, mit dem Fehltage erfasst werden, doch dieses System auf SAP-Basis bietet lediglich die Arbeitgebersicht auf ganze Fehltage (z.B. bislang 6,6% Fehltage aller Lehrer in Hessen bei insgesamt 1,8 Mio. Arbeitstagen). Damit ist immer noch keine qualitative Aussage über den Ausfall pro Fach, pro Jahrgang o.ä. möglich.

Die Daten liegen - natürlich - dezentral bei den Schulen vor, aber sie werden nicht systematisch erfasst, um z.B. mittel- und langfristig die Ausbildung von künftigen Lehrkräften zu planen. Fragen Sie doch mal bei Eltern nach, was ihre Kinder über Unterrichtsausfall erzählen!

Was viel wichtiger wäre als Arbeitstage: eine Erfassung von Fehlstunden aus Schülersicht: welcher Unterricht in welchem Fach ist ausgefallen? Diese Metrik sollte dem Curriculum gegenübergestellt werden, also dem Lehrplan, wieviel Unterricht pro Fach vorgesehen ist. Erst mit dieser Bewertung kann eine langfristige, sinnvolle Ressourcenplanung stattfinden.

Aus Elternsicht ist eine fachfremde Vertretung nur eine Betreuung, aber kein qualifizierter Unterricht. Hinzu kommt, dass externe Kräfte (sog. U-plus-Kräfte) keinen Fachunterricht halten *dürfen*, selbst wenn sie dazu qualifiziert wären (z.B. Lehramtsstudierende).

Auch die Qualität der Lehrerausbildung an den Universitäten ist gelinde gesagt heterogen. Die prüfungsrelevanten Anforderungen während des Studiums erstellt jede Hochschule für sich selbst, und beim Wechsel von einer Uni zu einer anderen ist es ein Lottospiel, welche Vorlesungen, Seminare etc. anerkannt werden. Die “Freiheit der Lehre” und somit die Ausbildung der Lehrer:innen unterliegt nämlich dem Ministerium für Wissenschaft und Kunst, und das Kultusministerium kommt erst beim Referendariat und bei den Abschlussprüfungen ins Spiel.

Als weiteres Damoklesschwert zeigt sich die föderale Zersplitterung: jedes Bundesland hat ein anderes Curriculum, somit gibt es in vielen Fächern Schulbücher in bis zu 16 Varianten, und das auch noch parallel von mehreren Verlagen, und sogar noch in Ausgaben für G8 und G9. Absurderweise werden viele Schulbücher von Lehrer:innen geschrieben, die dafür vom Dienstherrn freigestellt werden, und das Urheberrecht am Ergebnis liegt trotzdem bei den Verlagen, die sich dann den Verkauf an die Schulen teuer bezahlen lassen. 

Das Sahnetüpfelchen ist Söder, denn auch in Bayern fehlen Lehrer:innen, die er nun aus anderen Bundesländern mit Prämien abwerben will, was nicht nur dem Bayerischen Elternverband aufstößt, sondern überraschenderweise sogar der Bertelsmann-Stiftung.


03.03.2023

Kernkraft und die Märklin-Eisenbahn - Leserbrief

Und wieder mal ein Leserbrief, der jammert, dass Deutschland die Kernkraftnutzung beendet. Ich musste antworten.

[veröffentlicht am 03.03.2023]

Hr. M. weint den 25 ehemaligen deutschen Kernkraftwerken mit starken Worten und vielen Zahlen heftige Tränen nach.

Er behauptet einen riesigen volkswirtschaftlichen Schaden durch die Abschaltung der Kernkraftwerke. Ich halte dem einen vergleichbaren volkswirtschaftlichen Schaden entgegen: durch die von Altmaier und Gabriel verursachte Änderung im Erneuerbare-Energien-Gesetz sind seit 2012 ungefähr 125.000 Arbeitsplätze in der Windkraft- und Solarindustrie verloren gegangen. Jetzt stehen wir vor einem Zeitverlust von zehn Jahren Ausbau und der akuten Gefahr eines Wirtschaftskriegs mit China, dem derzeitigen Hauptproduzenten von Solarpaneelen.

Auch bei Hr. M.’ einseitigem Lamento werden die Argumente gegen die Kernkraft unter den Teppich gekehrt. Fangen wir mit den rein finanziellen Aspekten an.

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat eine Ausarbeitung über Subventionen der Kernkraft in Deutschland veröffentlicht (WD 5 - 3000 - 090/21).

"In den Jahren 2007 bis 2019 betrugen die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Stromerzeugung aus Atomenergie durchschnittlich zwischen 25 Ct/kWh und 39 Ct/kWh. Davon sind 21 bis 34 Ct/kWh bisher noch nicht im Strompreis enthalten und daher ‚versteckte Kosten‘ der Atomenergie. Insgesamt summieren sich die gesamtgesellschaftlichen Kosten allein in diesem kurzen Zeitraum auf 348 bis 533 Mrd. € (real). Davon entfallen rund 25 Mrd. € auf staatliche Förderungen, die direkt den Staatshaushalt belasten."

"Im Jahre 2015 hat eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Namen der deutschen Regierung die Kosten für die Stilllegung und das Management der radioaktiven Abfälle für die 23 kommerziellen Atomkraftwerke auf diskontierte € 47,5 Milliarden geschätzt.”

"In Deutschland werden die diskontierten Kosten für eine Endlagerung für die 27.000 m3 von überwiegend abgebrannten Kernbrennstoffen auf ungefähr € 8,3 Milliarden geschätzt; die nicht-diskontierten Kosten belaufen sich auf € 51 Milliarden."

Neben finanziellen Bedenken ignoriert Hr. M. geflissentlich, dass wir seit 50 Jahren kein Endlager haben und noch nicht einmal einen Standort. Niemand will ein Endlager in seiner Nähe.

Die drei noch laufenden Kernkraftwerke hatten seit Jahren keine Sicherheitsüberprüfung mehr. Bis diese Kraftwerke wieder funktionsfähig wären, würden Monate bis Jahre an Revision und Reparatur anstehen. Die restlichen Kraftwerke sind 40 Jahre alt und größtenteils im Abbruch befindlich.

Der EnBW-Vorstand Stamatelopoulos sagte: „Ein Atomkraftwerk ist keine Märklin-Eisenbahn, die man an- und abschaltet”.

Die Brennstäbe sind alle verbraucht, Hauptproduzent ist Russland. Wollen wir Putin noch mehr Geld für Kriege geben?

In Frankreich wurden viele Atomkraftwerke abgeschaltet, teils langfristig wegen schwerer Baumängel, teils wegen Wassermangel für die Kühlung - auch diese Trockenheit ist eine Folge der Klimakatastrophe. Kernkraft ist nicht mehr versicherbar. Wer trägt das Risiko?

Deutschland hat keine Experten mehr für Konstruktion, Bau und Betrieb von Kernkraftwerken. Nachdem die CDU/FDP-Koalition den Ausstieg 2011 beschlossen hat, wurden diese Arbeitsplätze abgebaut. Wir haben keine Zeit mehr, um die Kernkraft neu aufzubauen. Das vorhandene Budget muss in erneuerbare Energiequellen fließen.

Über das gesamte Jahr 2022 war Deutschland ein Netto-Exporteur von Strom ins Ausland, der Anteil an erneuerbaren Energien lag im Schnitt über 50%, teils sogar über 100%, so dass dieser Strom gut ins Ausland verkauft werden konnte, mit einem Ertrag von fast 4 Mrd. €. Insbesondere Frankreich ist im europäischen Stromverbund ein Risikokandidat mit dem geringsten Anteil an erneuerbaren Energien (unter 25%), was bei der derzeitigen Konstruktion der Strombörse zu enorm hohen Preisen führt (“Merit Order”).

Der Ausbau von Erneuerbaren in Deutschland geht einigermaßen gut voran (es könnte besser sein, insbesondere in Bayern und Thüringen, wo die CSU bzw. AfD nach Kräften blockiert hat), und die Bauzeit von Solarparks und Windkraftanlagen ist kürzer als die Neuplanung von Kernkraftwerken oder das Festhalten an utopischen Träumen wie Kernfusion. Wir haben schon den besten und sichersten Kernfusionsreaktor in greifbarer Nähe: unsere Sonne.

Fazit: die Kernkraftnutzung in Deutschland ist zu Recht beendet.