25.03.2023

Die Armutsgefährdung und ein Institut e.V. - Leserbrief

Ein Leserbrief kritisiert den Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und versucht, dies mit Argumenten aus einer "Unstatistik" des "RWI Essen" zu belegen. Ich war neugierig, was dieses "RWI Essen" eigentlich ist und habe mal nachgelesen, was tatsächlich in dieser "Unstatistik" steht (von März 2022). Spoiler: neoliberaler Quatsch mit dem Tenor, dass es bloss keine Steuererhöhungen für Reiche geben dürfe.

[veröffentlicht am 25.03.2023]

Tja, die “reine Mathematik” liegt dann doch nicht jedem, wie Hr. B. eindrücklich beweist mit seiner Behauptung, dass nach dem Zuzug von Bill Gates quasi die gesamte Wetterau unter die Definition von Armut fiele.

Das ist genau der Unterschied zwischen dem Durchschnitt und dem Median: es sind zwei vollkommen unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe, und der Median vermeidet exakt das, was Hr. B. hier behauptet.

Der Median ist schlicht die exakte Mitte einer Zahlenreihe (bzw. der Durchschnitt der beiden mittleren Werte). Diese Betrachtungsweise vermeidet genau die Verzerrung, die eine Durchschnittsberechnung hervorruft. Wenn nun ein Milliardär wie Bill Gates zuzieht, erhöht sich der Durchschnitt massiv, aber der Median verschiebt sich nur um eine Stelle, und die Nachbarschaft von einem mittleren Gehalt ist immer noch (vermutlich) ein mittleres Gehalt.

Ein Beispiel: in der Reihe ( 1 2 <3> 4 5) ist die markierte <3> der Median, die exakte Mitte. Der Durchschnitt ist zufällig ebenfalls 3, denn 15/5 ergibt 3. Wenn ich nun der Reihe das Einkommen des Milliardärs Bill Gates anhänge (der Einfachheit halber mit einer fiktiven Zahl), wäre die Reihe dann ( 1 2 <3 4> 5 1000 ). Der Durchschnitt ist 1015/6, also ungefähr 169. Der Median hingegen ändert sich kaum auf 3,5, den Mittelwert der beiden mittleren Werte (3+4)/2. Man sieht, dass der Median eine vernünftige Bewertung ermöglicht und “Ausreißer” keine große Rolle spielen.

Das von ihm zitierte “RWI Essen” ist kein wissenschaftliches Institut, wie der Name suggerieren will, sondern ein privat organisierter eingetragener Verein und hat daher vollkommen andere Ansprüche und Zielsetzungen als ein Institut einer Hochschule.

Der kritisierte Armutsbericht wird in der “Unstatistik” März 2022 angegriffen. Konsequent verwendet diese “Unstatistik” den Begriff “Durchschnitt”, um den Armutsbericht schlecht zu reden, und nur in einem Nebensatz wird zugegeben, dass der “Median” verwendet wird, aber nicht auf den gravierenden Unterschied der beiden Maßstäbe eingegangen. Insbesondere vermeidet das RWI die Aussage, dass die Armutsdefinition wissenschaftlich belegt ist und auf dem staatlichen Mikrozensus beruht.

Der Bericht behauptet, dass immer 20% der Kinder armutsgefährdet seien, und die korrekte Definition von “Armut” müsse man allein daran bemessen, ob einem Kind eine angemessene Teilhabe am Leben möglich sei. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: die Einkommen sind so schlecht, dass 60% des Median-Einkommens kaum ausreichen. Die Entscheidung, 60% des Medians zu verwenden, bemisst sich am Existenzminimum. Der Paritätische Wohlfahrtsverband begründet diese Entscheidung sehr gut, und das, was die Unstatistik kritisiert und alternativ vorschlägt, ist paradoxerweise nahezu wortwörtlich identisch.

Ein Zitat des Verbands: “(...) in unterschiedlich wohlhabenden Gesellschaften Armut sehr unterschiedlich aussehen kann und vor allem durch gesellschaftlichen Ausschluss, mangelnde Teilhabe und nicht erst durch Elend gekennzeichnet ist. (...) Armut ein dynamisches gesellschaftliches Phänomen ist. Mit zunehmendem Wohlstand einer Gesellschaft verändern sich Lebensweisen und es können neue Barrieren der Teilhabe entstehen, wenn dieser Wohlstand nicht alle relativ gleichmäßig erreicht. Mit diesem Armutsbegriff folgt der Paritätische wie auch das Statistische Bundesamt der in Wissenschaft und Politik etablierten Definition von Armut.”

Dem gegenüber ein Zitat des RWI: “Dieses Anbinden der Armutsquote an einen bestimmten Prozentsatz des Durchschnittseinkommens ist die Kardinalsünde der medialen Armutsberichterstattung. Sie ist wissenschaftlich völlig unhaltbar. (...) muss Armut, wenn man dieses Phänomen wirklich ernst nimmt, an den Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe anknüpfen.”

Ganz nebenbei wird am Schluss der Unstatistik die übliche neoliberale Position vertreten, dass es nicht helfe, den Reichen zu nehmen, um die Armut zu bekämpfen. Diese These läuft seit langem unter dem Modewort “trickle down” (sinnbildlich: Wohlstand sammelt sich “oben” und tröpfelt von dort bis ganz “unten”) und ist längst widerlegt.

Man fragt sich, welchen Hintergrund es hat, wenn Hr. B. nach einem Jahr einen Bericht ausgräbt und mit fragwürdiger Kritik anzugreifen versucht.

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