30.12.2023

Serienkritik der Kurzserie "Bodies" bei Netflix

In den letzten Tagen habe ich mir die kurze Serie "Bodies" (8 Teile) auf Netflix angeschaut. Gleich vorneweg: gute Unterhaltung, gute Schauspieler, einigermaßen in sich logische Handlung. Wertung: 9 von 10 Zeitmaschinen.

Natürlich habe ich jetzt schon einen Teil der Pointe vorweggenommen, aber nicht viel dabei verraten. Natürlich ist eine Zeitreise im Spiel, wenn dieselbe Leiche in vier verschiedenen Epochen aus dem Nichts erscheint und forensisch untersucht wird. Die Epochen sind 1891, 1941, 2023 und (erst später) 2053.

Was mich dazu veranlasst hat, mal wieder eine Kritik über eine Serie zu schreiben, ist der philosophische Aspekt, der hier zum Tragen kommt. Der Aufhänger der Serie ist eine in sich geschlossene Zeitschleife, die im Verlauf der Serie gezeigt wird.

Einige Vorkommnisse geschehen, die zunächst ohne Zusammenhang erscheinen. Dies klärt sich, während die Handlung voranschreitet.

Wer die Serie ohne Vorkenntnisse genießen will: ab hier folgen diverse Spoiler, ohne die sich die Handlung nicht diskutieren lässt; also dann bitte hier aufhören zu lesen :-)

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In kurzen Worten zusammengefasst: ein eher unglücklich im englischen Pflegesystem ("the system" oder "foster system") aufgewachsener junger Mann erfährt von seinen Pflegeeltern, dass er dazu ausersehen ist, die englische Gesellschaft umzuformen und England zu einem besseren Ort zu machen. Dazu ist allerdings die Explosion einer riesigen Bombe nötig ("the blast"), wobei nach diesem Terroranschlag mit mehreren Hunderttausend Toten die Nation zusammensteht und geeint wird. Der Wahlspruch dieser neuen Gesellschaft ist "Know you are loved" (KYAL).

Die Serie erzählt in der Kulisse mehrerer Epochen die Hintergrundgeschichte, warum ein nackter Mann aus dem Nichts erscheint und jeweils von einem Londoner Polizisten dieser Zeit gefunden wird. Jeder versucht auf seine Weise, das Rätsel zu lösen. Erst spät kommt die vierte Epoche im Jahr 2053 dazu, und diese Polizistin Iris Maplewood findet sowohl die spätere Leiche (noch als lebenden Menschen) als auch die Auflösung: Der Zeitreisende ist ein Wissenschaftler, der die Zeitmaschine entwickelt hat, um die Explosion zu verhindern. Zunächst ist Maplewood fest im System verankert, weil sie dadurch ihre Lähmung mit Hilfe eines Rückenimplantats ("spyne") überwinden kann. Sie ändert allerdings ihren Standpunkt, als ihr klar wird, wie manipulativ das System ist und welche Absichten der Commander verfolgt.

Der Wissenschaftler Defoe diskutiert mit ihr über Schicksal, den freien Willen und die Unabänderlichkeit von Geschehnissen. Er glaubt, dass der freie Wille nur eine Illusion ist und alle Abläufe genauso geschehen, wie sie es tun. Er hintergeht sie, flüchtet vor ihr, entführt sie dann mit Hilfe von Komplizen und zeigt ihr die Zeitmaschine. Da ihr Implantat zu orten ist, führt er aber somit den Commander zum Versteck der Zeitmaschine und ermöglicht ihm die Zeitreise. Als der Wissenschaftler ihm folgen will, schießt Maplewood auf ihn, während er sich schon auf der Reise befindet. Die Kugel trifft ihn ins Auge.

Das ist der Kernpunkt der Geschichte, die hier erzählt wird: der alte "Commander" im Jahr 2053 ist 2023 der junge Mann mit den Pflegeeltern. Diese Pflegeeltern haben ihm Sprachnachrichten in Form von Schallplatten vorgespielt, die angeblich von seinem Urgroßvater besprochen wurden. Tatsächlich ist es aber so, dass der Commander 2053 in die Zeitmaschine tritt und ins Jahr 1890 reist, um dort mit dem Wissen aus der Zukunft viel Geld an der Börse zu machen und eine Geheimgesellschaft zu gründen, die den Bau der Bombe vorbereitet, die 2023 explodieren soll.

Der Commander nimmt die Identität eines Kriegshelden an und überzeugt dessen Mutter mit dem Versprechen auf Reichtum, seine Identität zu bestätigen, auch wenn er dem echten Julian Harker nicht ähnlich sieht. 

Diese geheime Gesellschaft ist so gut in allen Kreisen vernetzt, dass sie 1891 den Polizisten Hillinghead mit Intrigen ins Gefängnis bringt und dann tötet, so dass er keine Gefahr für die Gesellschaft darstellt. Harker plant, die Tochter Polly zu heiraten und seine Nachkommen sollen die Gesellschaft weiter führen. Der letzte Sohn dieser Dynastie wird dann mit Absicht ein Kind zeugen und die Mutter verlassen, damit die Pflegeeltern ihn manipulieren können.

Der Polizist Charles Whiteman (ein geflüchteter Jude Karl Weissmann) versucht 1941, den Fall zu lösen und wird ebenfalls mit Intrigen zerstört. Zunächst lässt er sich von der Gesellschaft bestechen, um kleinere schwarze Geschäfte durchzuführen, Beweise zu vernichten etc. Dabei wird er von einem 11-jährigen Mädchen Esther beobachtet, die er später zu retten versucht. Sie wird während eines Luftangriffs der Deutschen in einem U-Bahn-Schacht von einem Mitglied der Gesellschaft vergiftet, um Whitemans Identität zu schützen. Dieses Ereignis führt dazu, dass Whiteman ebenfalls versucht, die Gesellschaft zu zerstören und die Mitglieder zu entlarven.

Im Finale der Serie reisen Maplewood und die gealterte Polizistin Hasan, die schon 2023 versucht hat, den Fall zu lösen, in die vorangegangenen Epochen, um dort die Vergangenheit zu ändern und somit die Zeitschleife zu durchbrechen, durch die Elias Mannix immer wieder zu Julian Harker wird und seinen eigenen Urgroßvater zeugt.

Ein Hauptplot der Geschichte ist die Art der Zeitreise: durch "Quantum" wird bei der Zeitreise ein Duplikat des Reisenden erzeugt und somit reisen zwei Personen gleich "weit" sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Das Defoe-Duplikat, das in die Zukunft reist, kann gerettet werden und überlebt Maplewoods Schuss. Dadurch erfahren sie von ihm, wo die Zeitmaschine sich befindet und wie sie benutzt wird. Kritik hier: laut Defoe wird ein Duplikat erzeugt, aber es reisen ja insgesamt vier Defoes nach 1891, 1941, 2023 und 2053?

Spoiler: das Verhindern der Explosion gelingt, weil Elias nach der Explosion immer Gewissensbisse hatte und die Tat bereut. Diese Zweifel wachsen durch die Zeitreise der Polizistinnen, die 1891 und 2023 eintreffen. Der sterbende Julian Harker bespricht 1941 eine letzte, geheime Schallplatte, in der er Elias auffordert, die Bombe nicht zu zünden. Whiteman versteckt die Schallplatte in einem Bilderrahmen einer Polizistenkneipe, die Hasan 2023 erkennt. Elias hört die Schallplatte und beschließt, die Bombe nicht zu zünden. Die Zeitschleife ist gebrochen, und keine der Zeitreisen findet statt. Elias hat nie existiert, vermutlich ist die Zukunft 2053 auch vollkommen anders. Die zeitgereiste Hasan verschwindet aus 2023 und vermutlich auch Maplewood aus 1891. Auch die zeitreisenden Defoes verschwinden aus der Realität.

Die Serie umgeht die übliche schmerzliche Diskussion über ein Zeitparadoxon: da die Explosion nicht stattfindet, weil die Gesellschaft nie gegründet wird, gibt es auch keinen Grund für die Zeitreise in der Zukunft, da die Bombe nie gebaut wird; möglicherweise wird die Zeitmaschine auch gar nie entwickelt, weil es keinen Antrieb dafür gab (eben: die Exposion zu verhindern). Elias hat nie existiert und kann deshalb nicht die Zeitreise antreten.

Ob also nun der freie Wille existiert oder nur eine Illusion ist, wie Defoe behauptet, ist irrelevant: wenn die Illusion "gut genug" ist, entscheidet sich jeder Mensch, das zu tun, was sich in der entsprechenden Situation gerade anbietet. Elias hat seinen freien Willen ausgeübt und sich dazu entschlossen, die Bombe nicht zu zünden. Die Geschichte hat also eine andere Wendung genommen und offensichtlich ist "freier Wille" möglich. Elias hat sogar sich und seine Existenz geopfert und daneben natürlich auch seine (kurze) Ahnenreihe, weil er ja auch als Harker nie den Sohn Hayden mit Polly gezeugt hat.

In der Serie werden Ideen und Anklänge aus anderen Zeitreisefilmen aufgegriffen: ähnlich wie bei Terminator kann nur lebendes Gewebe eine Zeitreise durchführen. Maplewood verliert ihr Implantat und kommt dadurch querschnittsgelähmt in der Vergangenheit an. Aus demselben Grund finden die Forensiker auch keine Kugel und keine Austrittswunde bei Defoes Leiche.

Die Polizisten hinterlassen eingekratzte Hinweise in einer Backsteinmauer neben dem Fundort der Leiche(n), die den anderen Polizisten dann in die Lage versetzen, z.B. die Verbindungen zwischen den Leichenfunden zu erkennen bzw. das Versteck der Schallplatte zu finden. Diese Idee hatte schon der 11. Doktor im 50-Jahre-Jubiläum von "Doctor Who", als er, von Elizabeth I. eingekerkert, den Code des Vortex-Manipulators in die Wand des Tower-Gefängnisses einritzt. Clara kann dann 2013 mit diesem Code den Zygonen entkommen (Fun Fact: es ist das Datum der Erstausstrahlung von Doctor Who, "2311631716", der 23. 11. 1963 um 17:16).

Die Diskussion um den "freien Willen" findet sich auch besonders prominent in "Good Omens" von Sir Terry Pratchett, als Adam sich entscheidet, die Apokalypse nicht auszulösen und sich somit seinem höllischen Vater zu widersetzen. Die Geschichte gibt es auch als Theaterstück von den Hanauer Dramateuren.

Was mir unangenehm aufgefallen ist, weil es aufgesetzt erschien, ist die homosexuelle Episode von Hillinghead mit dem Journalisten. In letzter Zeit habe ich oft das Gefühl, dass LGBTQ-Themen in Filmen und Serien auftauchen müssen, weil es Mode ist. In "Umbrella Academy" war das perfekt gelöst und passte in die Handlung: aus dem Mädchen Vanya wird der Mann Viktor und es ist einfach normal. In "Bodies" wirkt es gezwungen und künstlich und stört den Fluss der  Handlung. Harker inszeniert zwar mit dem betäubten Hillinghead Fotos in homosexuellen Posen, um ihn damit erpressen zu können, aber dies geschieht dann doch nie. Es wirkt, als ob das Drehbuch hier geändert wurde und der Handlungsteil nie bis zum Ende verfolgt wurde.

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