Am 19.04.2023 erschien ein großes Interview mit dem FDP-Bundestagsvizepräsidenten Kubicki, der verschütteter Milch nachtrauert und jammert, dass durch die Abschaltung der Kernkraftwerke mehr CO2 emittiert wird, weil Kernkraft durch Kohlestrom ersetzt wird, und er bejubelt neue Bauprojekte. Das waren sehr viele halbe und viertel Wahrheiten. Zunächst schrieb ich eine Email an die Redaktion, warum der Interviewer nicht besser vorbereitet in das Gespräch gegangen war. Daraufhin bot mir die Redaktion an, meine Email auch als Leserbrief zu veröffentlichen.
[veröffentlicht am 28.04.2023]
Hallo liebe Redaktion,
Sie drucken völlig ohne Einordnung die Behauptungen von Kubicki ab, dass durch die Abschaltung der KKW spontan 15 Mio t CO2 *mehr* emittiert werden würden.Diese Zahl wird seit Tagen erbittert diskutiert (z.B. bei Twitter und Mastodon) und die Realität ist deutlich anders. 15 Mio t CO2 wären fast 450 g CO2 pro erzeugter Kilowattstunde.Nur mal eine grobe Schätzung über den Daumen: der deutsche Strommix liegt in der Größenordnung von 425 g CO2 pro kWh Strom (Zahlen von 2021). 15 Mio t CO2 ist unrealistisch und viel zu hoch gegriffen für die drei letzten KKW, die sowieso nicht besonders leistungsfähig waren.Der Anteil von Kohle am deutschen Strommix fällt kontinuierlich und liegt momentan bei ca. 30%. Die 15 Mio t CO2 ergeben sich als großzügig aufgerundeter *Maximalwert*, wenn wir die KKW durch 100% Kohlestrom ersetzen würden. Realistisch müssen wir also 30% von 15 Mio t CO2 rechnen, das ergibt 4,5 Mio t CO2. Rein zufällig könnte man durch ein Tempolimit 5 bis 7 Mio t CO2 pro Jahr einsparen. Aber natürlich möchte Kubicki *diesen* Zusammenhang nicht herstellen.Abgesehen davon ist nominal überhaupt nicht von "mehr" CO2 zu sprechen, weil durch den europäischen Emissionshandel (ETS) der CO2-Ausstoß exakt den CO2-Zertifikaten entspricht und somit buchhalterisch konstant ist. Das freigewordene "Guthaben" der abgeschalteten KKW wird den anderen Stromerzeugern zugeschlagen, also ein Nullsummenspiel. Die längerfristige Idee ist, dass die Zertifikatanzahl mit der Zeit zurückgeht, dadurch der Preis für den Handel mit Zertifikaten steigt und die Stromerzeuger "teure" CO2-Emittenten, also hauptsächlich Kraftwerke mit Kohle und Gas, am schnellsten ersetzen oder abschalten.Das finnische KKW ist eines von nur drei Neubauprojekten in Europa. Es hat sich 10 Jahre verspätet und kostet 11 Mrd. Euro statt geplanter 3 Mrd. Euro.Das französische KKW verzögert sich weiter und läuft kostenmäßig ebenfalls völlig aus dem Ruder. Da 30 der 56 französischen KKW letztes Jahr im Sommer abgeschaltet werden mussten, ist der EDF-Konzern pleite gegangen und musste für über 18 Mrd. Euro verstaatlicht werden.Das türkische KKW-Bauprojekt liegt mitten in einem Erdbebengebiet und musste schon mehrfach neu geplant werden, um die Sicherheitsanforderungen an das Erdbebenrisiko anzupassen. Versichern will dieses KKW trotzdem kein Versicherungskonzern, das Risiko liegt also beim Staat und somit beim Steuerzahler.Und Kubicki wiederholt das Märchen, man könne die KKW einfach so "zwei Jahre" weiterlaufen lassen oder auf Reserve halten. Die Brennstäbe sind verbraucht, deswegen liefen die drei KKW zwar länger als bis Jahresende, aber die erzeugte Strommenge ist dieselbe geblieben - einfach, weil die Brennstäbe nicht mehr Kapazität hatten - der sogenannte "Streckbetrieb". Neue Brennstäbe zu bestellen und herzustellen, dauert mehr als ein Jahr.Ich finde es dermaßen traurig, dass Politiker ihre Märchen immer weiter und weiter erzählen, selbst wenn die Fakten schon lange eine ganz andere Sprache sprechen. Ich würde mir wünschen, dass Interviewer besser vorbereitet in so ein Gespräch gehen und ihren Interviewpartner sofort mit der Realität konfrontieren könnten.
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