11.11.2014

Tau zero - Poul Anderson - Buchbesprechung

Nach langer Zeit der Abstinenz hab ich mal wieder ein Buch aus der Kategorie "Hard SF" gelesen - also eine Science-Fiction-Geschichte mit harten physikalischen Fakten und einem streng wissenschaftlichen Hintergrund.

Vor längerem hatte ich eine Buchempfehlung gelesen und mir den Titel auf den Wunschzettel gesetzt - natürlich auf Englisch, wie meistens in letzter Zeit. Nur Eschbach lese ich im Original ;)

Dann dümpelte das Werk längere Zeit auf meiner Wunschliste herum, bis ich von Amazon ein Angebot bekam, das ich nicht ablehnen konnte: Kindle eBook für 1,62 € statt 5,99 € - das musste ich sofort kaufen. Vermutlich war genau das die Absicht von Amazon. Ich schätze, das mittlerweile die Kundenbeobachtung bei Amazon so gut ist, dass es individuelle Preise gibt, je nachdem, wie gerade Nachfrage, Lieferbarkeit etc. sind, und auch gelegentlich mal Lockangebote, um den Kunden fester zu binden. Warum fällt mir da auf, dass das fast so klingt wie "Ein Ring, sie zu ..."? ;)

Zurück zum Buch: es liest sich recht geschmeidig. Anderson hat einen sehr fluffigen, blumigen Stil, daran muss man sich erst gewöhnen. Es besteht aus knapp 20 Kapitelchen und insgesamt um die 200 Seiten. Er ist sprachlich umständlicher als z.B. Pratchett, und in Hard SF ist wenig Platz für Humor, und erst recht für Sex. Er wird zwar angedeutet, weil's vage zum Thema des Buchs passt, aber da das Buch 1970 geschrieben wurde, ist in der Richtung sonst nicht allzuviel zu erwarten - muss aber auch nicht.

Anderson hat auch einige humorige Geschichten geschrieben, die mir gut gefallen haben, aber "Tau Zero" ist von ganz anderem Kaliber. Es geht um nichts anderes als das gesamte Universum, sein Ende und den (vermutlichen) Neuanfang mit dem nächsten Urknall ("Big Bang"). Die Anspielung auf Douglas Adams spare ich mir hier ;)

Die Geschichte folgt dem Postulat von Einstein, dass sich nichts schneller als das Licht bewegen kann. Stattdessen wird ein Raumschiff angetrieben von der "Bussard-Engine", mit dem ein Raumschiff permanent beschleunigt werden kann, so dass sich seine Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkiet beliebig nah annähert, und diskutiert sehr ausführlich die relativistischen Effekte, die dabei auftreten. Der Titel des Buchs besteht aus dem griechischen Buchstaben, mit dem der "Abstand" zur Lichtgeschwindigkeit gemessen wird (tau), und "zero" beschreibt, dass dieser Abstand kaum messbar ist.

Der Antrieb des Raumschiffs besteht aus zwei Teilen: einem zum Beschleunigen und einem zum Abbremsen. Nach mehreren Monaten Flug, in denen das Schiff schon extrem schnell fliegt, kommt es zu einem Unfall. Ein kleiner Gasnebel ("Nebulina") wird durchflogen, und dabei wird die Bremseinrichtung beschädigt. Das Raumschiff kann also noch weiterfliegen, aber wird nicht mehr anhalten können. Im Flug kann auch kein Außeneinsatz durchgeführt werden, weil die harte Röntgenstrahlung sofort tödlich wäre - und das sogar zweifach. Der Antrieb selbst gibt Strahlung ab, und bei dieser hohen Geschwindigkeit ist schon das gelegentliche Partikel im Vakuum ebenfalls tödlich durch die Strahlung beim Zusammenstoß und durch den Doppler-Effekt. Da sich die "Bussard-Engine" aus genau diesen bei hohen Geschwindigkeiten gar nicht mehr so gelegentlichen Partikeln speist, ist es weder innerhalb der Galaxis noch im Leerraum zwischen Galaxien möglich, den Antrieb abzuschalten und im freien Fall eine Außenreparatur vorzunehmen.

Die Lösung ist so pragmatisch wie ungeheuerlich: das Raumschiff muss immer weiter beschleunigen, bis es den Leerraum zwischen Galaxienclustern erreicht, wo es so gut wie keine Teilchen gibt, die die Menschen beim Außeneinsatz durch die Strahlung töten könnten. Da der Leerraum zwischen Clustern mehrere Hundert Millionen Lichtjahre entfernt ist, muss "Tau" immer kleiner werden, damit das Ziel zu Lebzeiten der Raumfahrer erreicht werden kann. Die Schlussfolgerung daraus ist natürlich, dass das Raumschiff sich zeitlich aus der Menschheitsgeschichte verabschiedet: für einen Außenstehenden vergehen ja diese Hunderte von Millionen von Jahren tatsächlich, die das Raumschiff benötigt, um dorthin zu gelangen.

Breiten Raum nimmt in der Geschichte ein, dass sich die Raumfahrer von ihrer Ursprungswelt entfremden, weil auf einem Raumschiff die Zeit langsamer vergeht (Zeitdilatation). Einer der Raumfahrer ist von einem früheren Flug zurückgekehrt, und für ihn sind nur 11 Jahre vergangen, obwohl er 29 Lichtjahre zurückgelegt hat - auf der Erde sind schon seine Enkel unterwegs, obwohl er biologisch selbst noch sehr jung ist. Natürlich ist das Raumschiff eben doch 29 Jahre lang geflogen, aber die Zeit an Bord vergeht langsamer, nicht nur "gefühlt", sondern ganz realistisch. Ein Besatzungsmitglied könnte also subjektiv davon sprechen, dass sie mit Überlichtgeschwindigkeit geflogen sind. Kaum thematisiert wird, dass die Masse des Raumschiffs immer stärker zunimmt, je mehr es beschleunigt. Irgendwann müsste also das Raumschiff soviel Energie aufgenommen haben, dass es quasi beim Durchfliegen einer Galaxie deren gesamte Masse "auffrisst" und zur weiteren Beschleunigung verwendet.

Sehr schön finde ich, dass physikalische Effekte wie Rotverschiebung, Inertialsysteme, Parallaxenverschiebung, die Beobachtung der Außenwelt aus einem mit hoher Geschwindigkeit fliegenden Raumschiff und ähnliches sehr gut und nachvollziehbar beschrieben werden. Man merkt, dass Anderson studierter Physiker ist.

In anderen Kritiken wird bemängelt, dass sich das Buch sehr stark mit der Psyche der Besatzung beschäftigt, mit den 50 Personen, die zu einem 11 Lichtjahre entfernten Sonnensystem reisen sollen, um dort bei Auffinden eines geeigneten Planeten als Siedler dauerhaft dort zu bleiben. Ich finde im Gegenteil, dass es einer der Glanzpunkte des Buches ist, dass es eben nicht bei der kalten technischen Beschreibung des Flugs stehenbleibt, sondern sich sehr intensiv damit auseinandersetzt, wie sich Menschen in einer Krise verhalten, und diese Krise ist eigentlich die schlimmste denkbare, die ein lebender Mensch sich vorstellen kann - der Bruch mit der gesamten, restlichen Menschheit. Dabei treten kleine Diktatoren, Gewaltausbrüche, Schwangerschaften und Betrug genauso auf wie Heldentum - Anderson ist ja eher berüchtigt für archetypische, klischeehafte Persönlichkeiten. Insofern enthält das Buch auch keine detaillierten Charakterstudien und Hintergründe der einzelnen Personen, sondern eher distanzierte Beschreibungen der Verhältnisse zwischen den einzelnen Protagonisten. Persönliche Eigenschaften oder vergangene Erlebnisse werden nur ganz kurz angerissen.

Kleinere Krisen in der Besatzung treten auf, als bestimmte räumliche oder zeitliche "Marken" erreicht werden, wie z.B. das Verstreichen von 10.000 Jahren, oder das Durchfliegen des Milchstraßenzentrums, das Verlassen der Milchstraße und schließlich das Verlassen unseres lokalen Clusters, zu dem z.B. auch Andromeda und die Magellan'schen Wolken gehören.

Ich verderbe niemandem den Genuss, wenn ich verrate, dass der Antrieb tatsächlich repariert werden kann, aber danach treten neue Schwierigkeiten auf: das Raumschiff ist so schnell, dass es nicht rechtzeitig genug abbremsen kann, um in einer Galaxis einen besiedelbaren Planeten aus der Ferne anzumessen und anzusteuern.

Die finale Lösung hat mir nicht gefallen: das Raumschiff "überlebt" nach mehr als Hundert Milliarden Jahren Flug das Ende unseres Universums, indem es "Abstand" zum Nukleus des entstehenden nächsten Universums hält, und dann seine Geschwindigkeit so anpasst, dass es mit den neu entstehenden Galaxien "Schritt hält", so dass eine geeignete, besiedelbare  Welt gefunden werden kann, die etwa die Eigenschaften der Erde hat. Da der Urknall voraussetzt, dass Raum, Zeit und Energie gerade erst aus einer Singularität entstehen, kann das Raumschiff eigentlich keinen "Abstand" zum Nukleus halten, da der Raum selbst wieder kontrahiert bis zum unbeschreiblichen "Nichts", in dem keine physikalischen Regelmäßigkeiten gelten. Es gibt keinen Raum mehr, innerhalb dessen sich das Raumschiff bewegen kann. Die gängige Theorie ist, dass der Kosmos vollständig in sich zusammenstürzt und das Konzept "Abstand" sinnlos wird.

Diese Inkonsistenz in einem ansonsten kosmologisch sehr präzise beschriebenen Werk hinterlässt einen etwas schalen Geschmack am Ende. Nachdem ich die Buchempfehlung gelesen hatte, habe ich mir schon selbst überlegt, was ein plausibles Ende wäre, und ich bin zu einer ganz anderen Vermutung gekommen. Ich hatte erwartet, dass das Raumschiff selbst zum Kern des Urknalls wird, weil es eben bei seinem langen Flug die gesamte Masse des bisherigen Universums in sich aufgenommen hat.

Das "Überleben" des Urknalls ist auch in einer anderen Serie schon mal Thema gewesen, nämlich bei den "Terranauten", einer leicht grün angehauchten SF-Serie aus den Achtziger Jahren, die leider mit Band 99 und nach einigen Taschenbüchern eingestellt wurde.

Passend zum Gigantismus gibt es zum Schluss ein Happy End, und die Siedler landen auf einer sehr erdähnlichen Welt.

Eine ehrliche Leseempfehlung kann ich nur abgeben für wissenschaftlich interessierte Menschen, die genug Vorstellungsvermögen haben und ein bißchen Vorbildung in Relativitätstheorie haben (nicht die Mathematik, aber die gedankliche Konstruktion dahinter). Wenn das gegeben ist, macht das Buch richtig Spaß.

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