29.06.2024

Europawahl, Jugend und TikTok - Leserbrief

[veröffentlicht am 29.06.2024, Änderungen der WZ-Red. in rot]

Einige Analysen der Wahlergebnisse schimpfen auf “die Jugend” und das Wahlergebnis, insbesondere der Jugendlichen unter 18, die zum ersten Mal wählen durften.

Dazu ein paar Gedanken, zuerst zur Wahlstatistik, dann zur Umweltzerstörung und zum Internet:

das Wahlergebnis für die AfD und die anderen extremen Parteien (Heimat, Basis, usw.) liegt bei dieser Altersgruppe ziemlich genau im Durchschnitt. Zusammen mit der Beobachtung, dass die Über-50-jährigen besonders wenig extrem gewählt haben, bleibt als Schlussfolgerung also nur übrig, dass gerade die mittlere Altersgruppe überdurchschnittlich stark diese Parteien gewählt haben. Umgekehrt finde ich es überraschend, dass die Jugendlichen aus Verdrossenheit nicht noch stärker diese Parteien gewählt haben, sondern wirklich im Durchschnitt liegen.

Das sind nämlich die Jugendlichen, die einige Jahre lang mit einer verkürzten Schulzeit durch G8 gequält wurde, und deren Uni-Zeit durch die Bologna-Reform verkürzt werden sollte, damit sie früher in den Arbeitsmarkt eintreten können, und denen jetzt eventuell auch noch ein Pflichtdienst droht. Das sind die Jugendlichen, die zahlenmäßig nicht genügend Wähler darstellen, um bei Wahlen etwas zu verändern - 55 % der Wahlberechtigten sind 50 Jahre oder älter. Das sind die Jugendlichen, die in der Welt leben müssen, die wir - insbesondere in den letzten 40 Jahren - massiv geschädigt haben und es jetzt nicht gebacken bekommen, rechtzeitige und hinreichende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Wir sind zwar auf einem Weg dahin, aber es gibt zuviele Bremser, sowohl in der Regierung, als auch in der Opposition, als auch in der Industrie, die nach wie vor zu stark von fossilen Geschäften profitiert, als auch in den Medien, die im Hintergrund zu stark von fossilen Interessen ihrer Besitzer gesteuert werden (Stichwort “Heiz-Hammer” in den Springer-Medien, großer Anteilseigner KKR).

Geradezu ironisch, dass Merz jetzt plötzlich “voll hinter der Wärmewende steht”, weil Blackrock 880 Mio. Euro in Enpal investiert.

  • Die Anzahl der PKW in Deutschland hat sich seit 1985 von 25 Millionen auf 50 Millionen verdoppelt.
  • Das Gewicht der Autos hat sich fast verdoppelt (700 kg Ur-Mini vs. 1200 kg Mini, 800 kg Golf 2 vs. 1500 kg Golf 8)
  • Allein seit 1985 haben wir die CO2-Konzentration von 350 ppm auf 420 ppm erhöht (das ist dreimal schneller als in der Zeit von 1850 bis 1985!).

Auch wenn “die Jugend” bei dieser Wahl “nur” im Durchschnitt liegt: die Propaganda der extremen Parteien auf TikTok und anderen sozialen Netzwerken ist bedenklich und beunruhigend. Hier müssen die anderen Parteien unbedingt nachziehen und die Angebote dort unterbreiten, wo das digitale Leben dieser Altersgruppe stattfindet! Es nutzt nichts, Angebote zum Faxabruf bereit zu halten, wenn die Zielgruppe Instagram, Snapchat und TikTok verwendet. Auch ein billiges Video des Kanzlers mit Aktentasche trägt nicht dazu bei, dass Politik erklärt wird. Die AfD hatte einer kürzlichen Statistik zufolge über 17 Mio. Abrufe bei TikTok, und alle anderen Parteien zusammen erreichten nicht einmal eine Mio. Abrufe! Zusammen mit dem ausschließlichen “Gefälligkeitsalgorithmus” von TikTok (man kann nicht aktiv Themen oder Personen abonnieren, sondern TikTok passt sich gemäß den bisherigen Abrufen dynamisch an) ist das extrem gefährlich, wenn die Nutzer immer tiefer in ihren eigenen Blasen und Themen versinken und nichts anderes mehr wahrnehmen (wollen oder können).

Insgesamt ist mein Fazit aus dieser Wahl: die Medienkompetenz muss in allen Altersgruppen deutlich besser werden, und die Politik muss die Bürger aktiv besser informieren. Insbesondere sollte die Opposition aufhören, Desinformation zu verbreiten (krasses Beispiel “300.000 € für eine Wärmepumpe”).

Anekdote zum Schluss: Christian Lindners Haus hat eine Wärmepumpe.

20.06.2024

Soll es einen Pflichtdienst geben? - Leserbrief

Gleich zweimal hintereinander mit kurzem Abstand trommelt eine Glossistin in der WZ für die Dienstpflicht. Ich finde die Idee nicht gut.

[veröffentlicht am 20.06.2024]

Oberflächlich betrachtet klingen die beiden Glossen von Fr. Möllers ja ganz nett: seid alle lieb und nett zueinander, seid solidarisch und helft Euch gegenseitig. Alles sehr schön und christlich und humanistisch.

Wenn man aber mal ein wenig tiefer schaut, fordert sie einen verpflichtenden Arbeitsdienst, in etwa dasselbe, was auch auf dem CDU-Parteitag gerade diskutiert und gefordert wurde (neben der Wehrpflicht, aber das ist nochmal ein anderes Thema).

Fr. Möllers will also einen billigen Pflichtdienst einrichten, der ähnlich wie früher der Wehrersatzdienst karitative und pflegerische Hilfstätigkeiten ausübt, weil berufliche Dienste “nicht mehr zu bezahlen wären”.

Ich nehme damit als Kernaussage mit, dass Pflegeberufe finanziell nicht wertgeschätzt werden müssen, und weil die Arbeitgeber nur schlechte Löhne zahlen, soll nun gesetzlich legitimiert ein Zwangsdienst etabliert werden, der ohne angemessene Bezahlung das übernimmt, was marktwirtschaftlich (angeblich) nicht leistbar ist.

Solch ein Zwangsdienst wird noch stärker dazu führen, dass Pflegeberufe schlecht bezahlt werden, weil man ja als Alternative die Zwangs-”Ehrenamtlichen” heranziehen kann. Auch die Qualität der Pflege wird sinken, wenn Dienstpflichtige mit wenig Ausbildung auf ihre “Kunden” losgelassen werden, mal ganz abgesehen von der Motivation.

Gefordert wird dieser Arbeitsdienst von Politikern, die selbst davon nicht betroffen sind, dies aber der jungen Generation aufbürden wollen. Das ist dieselbe junge Generation, die einige Jahre lang mit einer verkürzten Schulzeit durch G8 gequält wurde, und deren Uni-Zeit durch die Bologna-Reform verkürzt werden sollte, damit sie früher in den Arbeitsmarkt eintreten können. Das ist dieselbe junge Generation, die zahlenmäßig nicht genügend Wähler hat, um bei der nächsten Wahl etwas zu verändern - 55 % der Wahlberechtigten sind 50 Jahre oder älter.

Die Politikergeneration, die jahrzehntelang auf Neoliberalismus, Kapitalismus und insbesondere Privatisierung gesetzt hat und dadurch die massiven Probleme erst verursacht hat, will nun billige Arbeitskräfte gesetzlich mit staatlichem Dirigismus dazu zwingen, die Lücken zu stopfen.

Die bisherige Politik hat es also versäumt, rechtzeitig für den schon lange absehbaren demografischen Wandel vorzusorgen (“Die Rente ist sischer” - Nobbi Blüm).

Sie hat es in Form der CDU 40 Jahre lang energisch versäumt, eine brauchbare Einwanderungsgesetzgebung zu schaffen.

Die Agenda 2010 hat den Billiglohnsektor massiv vergrößert und man jammert über Aufstocker, weil das “Gehalt” nicht zum Leben ausreicht.

Mit Riester- und Rürup-Rente wurde eine privat finanzierte Vorsorge eingerichtet, die eigentlich nur den Versicherungsfirmen nutzt.

Durch das Anwanzen an die rechte Rhetorik der AfD hat die CDU das Ansehen Deutschlands im Ausland so beschädigt, dass qualifizierte Arbeitskräfte auch gar kein Interesse haben, herzukommen.

Die bisherige Politik hat die Infrastruktur verrotten lassen (Bahn, Brücken, ...).

Die jetzigen Arbeitnehmer:innen zahlen für ihre Kinder, für ihre eigene private Vorsorge und für die aktuellen Renten, also für drei Generationen gleichzeitig. Wer das nicht leisten kann, dem droht unweigerlich Altersarmut und (erneut) Aufstocken. Kinderarmut betrifft bereits über 20 % aller Familien. Nun wird über Überstunden und höheres Rentenalter (also effektiv eine Rentenkürzung) diskutiert und den jungen Menschen vorgeworfen, zu wenig Kinder zu bekommen. Unsere Kinder sehen diese Ansammlung von Desastern und fragen sich natürlich, warum sie diesen Wahnsinn weiter treiben sollen.

Nebenbei verbietet das Grundgesetz einen Arbeitsdienst, es müsste also mit Zweidrittelmehrheit eine Änderung herbeigeführt werden.

Wie wäre es als Lackmus-Test mit einer Dienstpflicht für z.B. Politiker, bevor sie dafür stimmen, oder eine zeitlich gestaffelte Dienstpflicht für alle - in jedem Lebensjahrzehnt einen Monat?