20.06.2024

Soll es einen Pflichtdienst geben? - Leserbrief

Gleich zweimal hintereinander mit kurzem Abstand trommelt eine Glossistin in der WZ für die Dienstpflicht. Ich finde die Idee nicht gut.

[veröffentlicht am 20.06.2024]

Oberflächlich betrachtet klingen die beiden Glossen von Fr. Möllers ja ganz nett: seid alle lieb und nett zueinander, seid solidarisch und helft Euch gegenseitig. Alles sehr schön und christlich und humanistisch.

Wenn man aber mal ein wenig tiefer schaut, fordert sie einen verpflichtenden Arbeitsdienst, in etwa dasselbe, was auch auf dem CDU-Parteitag gerade diskutiert und gefordert wurde (neben der Wehrpflicht, aber das ist nochmal ein anderes Thema).

Fr. Möllers will also einen billigen Pflichtdienst einrichten, der ähnlich wie früher der Wehrersatzdienst karitative und pflegerische Hilfstätigkeiten ausübt, weil berufliche Dienste “nicht mehr zu bezahlen wären”.

Ich nehme damit als Kernaussage mit, dass Pflegeberufe finanziell nicht wertgeschätzt werden müssen, und weil die Arbeitgeber nur schlechte Löhne zahlen, soll nun gesetzlich legitimiert ein Zwangsdienst etabliert werden, der ohne angemessene Bezahlung das übernimmt, was marktwirtschaftlich (angeblich) nicht leistbar ist.

Solch ein Zwangsdienst wird noch stärker dazu führen, dass Pflegeberufe schlecht bezahlt werden, weil man ja als Alternative die Zwangs-”Ehrenamtlichen” heranziehen kann. Auch die Qualität der Pflege wird sinken, wenn Dienstpflichtige mit wenig Ausbildung auf ihre “Kunden” losgelassen werden, mal ganz abgesehen von der Motivation.

Gefordert wird dieser Arbeitsdienst von Politikern, die selbst davon nicht betroffen sind, dies aber der jungen Generation aufbürden wollen. Das ist dieselbe junge Generation, die einige Jahre lang mit einer verkürzten Schulzeit durch G8 gequält wurde, und deren Uni-Zeit durch die Bologna-Reform verkürzt werden sollte, damit sie früher in den Arbeitsmarkt eintreten können. Das ist dieselbe junge Generation, die zahlenmäßig nicht genügend Wähler hat, um bei der nächsten Wahl etwas zu verändern - 55 % der Wahlberechtigten sind 50 Jahre oder älter.

Die Politikergeneration, die jahrzehntelang auf Neoliberalismus, Kapitalismus und insbesondere Privatisierung gesetzt hat und dadurch die massiven Probleme erst verursacht hat, will nun billige Arbeitskräfte gesetzlich mit staatlichem Dirigismus dazu zwingen, die Lücken zu stopfen.

Die bisherige Politik hat es also versäumt, rechtzeitig für den schon lange absehbaren demografischen Wandel vorzusorgen (“Die Rente ist sischer” - Nobbi Blüm).

Sie hat es in Form der CDU 40 Jahre lang energisch versäumt, eine brauchbare Einwanderungsgesetzgebung zu schaffen.

Die Agenda 2010 hat den Billiglohnsektor massiv vergrößert und man jammert über Aufstocker, weil das “Gehalt” nicht zum Leben ausreicht.

Mit Riester- und Rürup-Rente wurde eine privat finanzierte Vorsorge eingerichtet, die eigentlich nur den Versicherungsfirmen nutzt.

Durch das Anwanzen an die rechte Rhetorik der AfD hat die CDU das Ansehen Deutschlands im Ausland so beschädigt, dass qualifizierte Arbeitskräfte auch gar kein Interesse haben, herzukommen.

Die bisherige Politik hat die Infrastruktur verrotten lassen (Bahn, Brücken, ...).

Die jetzigen Arbeitnehmer:innen zahlen für ihre Kinder, für ihre eigene private Vorsorge und für die aktuellen Renten, also für drei Generationen gleichzeitig. Wer das nicht leisten kann, dem droht unweigerlich Altersarmut und (erneut) Aufstocken. Kinderarmut betrifft bereits über 20 % aller Familien. Nun wird über Überstunden und höheres Rentenalter (also effektiv eine Rentenkürzung) diskutiert und den jungen Menschen vorgeworfen, zu wenig Kinder zu bekommen. Unsere Kinder sehen diese Ansammlung von Desastern und fragen sich natürlich, warum sie diesen Wahnsinn weiter treiben sollen.

Nebenbei verbietet das Grundgesetz einen Arbeitsdienst, es müsste also mit Zweidrittelmehrheit eine Änderung herbeigeführt werden.

Wie wäre es als Lackmus-Test mit einer Dienstpflicht für z.B. Politiker, bevor sie dafür stimmen, oder eine zeitlich gestaffelte Dienstpflicht für alle - in jedem Lebensjahrzehnt einen Monat?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen