Ein regelmäßiger Glossist schreibt in einem Nebensatz, dass wir "Atomstrom aus Frankreich importieren müssen", weil wir unsere deutschen KKW abgeschaltet hätten. Das ist eine genauso schlichte wie falsche Erklärung, warum wir Strom importieren, und das schrieb ich als Entgegnung.
[veröffentlicht am 01.07.2023]
Warum darf Hr. Seligmann unwidersprochen das FDP-Märchen wiederholen, dass wir den Atom- und Kohlestrom aus Frankreich kaufen, weil wir unsere Kernkraftwerke abgeschaltet haben?
Bevor solche Behauptungen sich weiter verbreiten, sollte sich Hr. Seligmann darüber informieren, wie das europäische Stromverbundnetz funktioniert, bevor er kausale Zusammenhänge erfindet, die nicht aus dieser Realität stammen. Es stimmt eben gerade nicht, dass wir Strom aus Frankreich kaufen, weil wir die deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet haben!
Die deutschen Kernkraftwerke hatten zuletzt weniger als 4 % Anteil am deutschen Strommix und haben im Gegenteil dafür gesorgt, dass der Strompreis an der Börse sehr hoch war (“merit order”, der teuerste Anbieter bestimmt den Preis für alle Stromarten). Nach dem Abschalten ist der Strompreis kontinuierlich gesunken, und da wir ausreichend Wind und Solar als Ersatz haben, die eben nicht abgeschaltet werden mussten, konnten wir sogar die Stromerzeugung aus Kohlekraftwerken im Vergleich zum Vorjahr auf die Hälfte reduzieren. Das größte deutsche Kohlekraftwerk Datteln 4 ist z.B. seit mehr als zwei Monaten abgeschaltet, weil es schlicht zu teuer ist.
Der Atomstrom aus Frankreich ist nur deshalb so billig, weil Frankreich den Energieversorger EDF nach der Insolvenz für über 18 Mrd. Euro verstaatlichen musste und der Strompreis in Frankreich staatlich gedeckelt ist, also massiv aus Steuergeldern subventioniert wird. Der Atomstrom aus Frankreich ist also gar nicht billig, sondern das französische Steuersäckel wird dafür ausgeblutet.
Die Idee beim europäischen Verbundnetz ist doch gerade, dass der billigste Strom innerhalb ganz Europas ge- und verkauft wird. Im Moment ist das zufällig und auch nur für einen kurzen Zeitraum Atomstrom aus Frankreich. Es ist aber erwartbar, dass Frankreich mit dem geringsten Anteil an Erneuerbaren Energien (unter 25 %) bei der kommenden, jetzt schon absehbaren Wasserknappheit wieder viele Kernkraftwerke wegen Kühlwassermangel abschalten muss, und dann sehr viel Strom importieren muss. Es stimmt auch nicht besonders beruhigend, dass Macron baufällige Kernkraftwerke trotz Sicherheitsvorfällen per Dekret weiter am Laufen hält, obwohl dort Risse von mehreren Zentimetern Länge im Beton des Sicherheitsbehälters klaffen.
Über das ganze letzte Jahr gesehen war Deutschland netto ein Exporteur von Strom, auch weil Bundesländer wie NRW nahezu 100 neue Windkraftanlagen bauen. Mit dem Export hat Deutschland mehrere Mrd. Euro verdient, und für den Import umgekehrt weniger als 1 Mrd. Euro ausgegeben. Jetzt fällt uns aber sehr schmerzlich auf die Füße, dass die CSU im Bund zuviel Einfluss hat und die Nord-Süd-Stromtrasse verhindert hat, und absurde Regelungen wie 10H aufgestellt hat, um keine Windkraftanlagen zu bauen. Nun will Söder auch noch verhindern, dass es mehrere Strompreiszonen in Deutschland geben soll, weil er genau weiß, dass dadurch der Strom in Bayern teurer werden würde.
Es ist sinnlos, für die eigene kurzsichtige Propaganda Momentaufnahmen der Stromerzeugung zu verwenden. Eine aussagekräftige Bewertung ist nur über einen längeren Zeitraum sinnvoll, und da steht Deutschland erstaunlich gut da (tja, bis auf Bayern). Gerade im Winter ist die Windkraft sehr stark gewesen. Gleichzeitig ist es auf lange Sicht wichtig, die Stromerzeugung zu diversifizieren, mit einem möglichst hohen Anteil an Erneuerbaren, wie Wind, Solar, Wasser, Biomasse, und für die Lücken dann kurzfristig z.B. Gaskraftwerke hochzufahren, die man dann ebenso schnell wieder abschalten kann.
Es wäre wünschenswert, wenn Kolumnisten sich erst zu Themen äußern, wenn sie vorher mit einem Fachmann zusammen recherchiert haben, um die Fakten richtig darzustellen.
Es gibt keinen einzigen Grund, den deutschen Kernkraftwerken nachzutrauern.
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